Ewiges Eis?
Michael Kuhn, Institut für Meteorologie und Geophysik, Universität Insbruck


Michael Kuhn

ist einer der bekanntesten Gletscherforscher Österreichs.
Der vorliegende Beitrag stellt eine ergänzende Fassung der Ausführungen dar, welche Prof. Kuhn auf Einladung des ALPENFORUM am 25. Mai 2001 in Murau gehalten hat. Wir veröffentlichen die ungekürzte Fassung als interessante Diskussionsgrundlage zur differenzierten Bewertung des derzeitigen Gletscherrückgangs in den Alpen.

 

Ewiges Eis? Die Gletscher der Alpen sind in den letzten 150 Jahren deutlich kleiner geworden, manche überhaupt verschwunden. Eis ist also nicht ewig. Aber was bedeutet eigentlich "ewig" in diesem Zusammenhang? Gletscher sind sicher nicht so alt wie das Gebirge, das sie trägt. Es kann sein, dass es zur Römerzeit, als Hannibal mit seinen Elefanten die Alpen überquerte, viel weniger Gletscher gab als heute. Es ist sicher, dass sie seit 1850 kleiner geworden sind, dass aber um 1920 und 1980 die meisten Alpengletscher wieder vorgestoßen sind und sich seither zurückziehen. Sollen wir also sagen, "ewig" heißt 150 Jahre, oder zumindest die Zeit von ca. 20 Jahren, an die wir uns gut erinnern?

 

Ewig. Das älteste Eis, das bisher in der Antarktis datiert wurde, stammt aus einem 3 km tiefen Bohrloch durch das Inlandeis - es ist 400.000 Jahre alt.

 

 

 

Auch wenn ein Gletscher 1000 Jahre lang gleich groß bleibt, heißt das nicht, dass sein Eis 1000 Jahre alt ist (ewig schon gar nicht), denn das Eis fließt durch einen Gletscher wie das Wasser durch einen See, oben hinein, unten hinaus, nur dass das Eis viel langsamer ist: bei einem mittelgroßen österreichischen Gletscher im Durchschnitt etwa 10 m pro Jahr, das heißt also in einem 1 km langen Gletscher 100 Jahre von oben bis unten.

Jahrhunderte und Jahrzehnte sind also die Zeitmaßstäbe, nach denen das Bestehen (die Ewigkeit) unserer Alpengletscher beurteilt werden muss. Dabei ist es auffallend und sicher ursächlich verbunden, dass sich das Klima in Mitteleuropa und in den Alpen in diesen beiden Rhythmen geändert hat, seit wir Messungen und Aufzeichnungen über die verschiedenen Klimagrößen wie Temperatur, Niederschlag, Wind, Wolken und Sonnenstrahlung haben. 

Wenn wir die Temperatur um 1850 mit der heutigen vergleichen, sehen wir bei einigen österreichischen Klimastationen einen Anstieg der Temperatur um mehr als 1 Grad, das ist etwa doppelt soviel wie der weltweite Durchschnitt der Erwärmung. Zur gleichen Zeit sind in Österreich viele kleine Gletscher verschwunden, einige große haben sich auf rund die Hälfte ihrer Fläche oder ein Drittel ihres Volumens reduziert, wobei es 1920 uns 1980 vorübergehend Gletscherwachstum gegeben hat, obwohl zugleich CO2 und Temperatur zugenommen haben. Aus diesen Beobachtungen und aus der oft gehörten Prognose, dass die Temperatur in unserem Jahrhundert noch um einige Grad steigen könnte, ergeben sich eine Reihe von Fragen: 


Vergänglich. Das Rainbachkees unter der Reichenspitze hat heute seine Zunge verloren, die vor rund 150 Jahren noch bis zu dem deutlich sichtbaren Moränenwall reichte.

1) Was war die Ursache für den Gletscherrückzug seit 1850, besonders seit 1985? Weniger Winterschnee baut weniger Gletschereis auf, wärmere Sommer lassen mehr Eis schmelzen, wenn im Sommer mehr Regen statt Schnee auf die Gletscher fällt, werden sie dunkler, absorbieren mehr Sonnenstrahlung und schmelzen schneller. Welche Kombination dieser drei Umstände den Rückzug der Gletscher seit 1850 bestimmt hat, weiß die Wissenschaft immer noch nicht genau. Die Vorstöße von 1920 und 1980 haben zu einer Zeit stattgefunden, zu der das CO2 und andere Treibhausgase stetig zugenommen haben, das zeigt, dass neben dem Treibhauseffekt auch andere Effekte im Klimasystem mitwirken. 

2) War 1850 außergewöhnlich oder ist der heutige Zustand der Alpengletscher außergewöhnlich? Eine Rekonstruktion der Temperatur in Europa zeigt, dass die Neunzehnhundertneunzigerjahre wärmer waren als jedes Jahrzehnt der letzten 1000 Jahre. Aus historischen Dokumenten und direkten Messungen wissen wir, dass die österreichischen Gletscher 1602, 1680, 1772, 1820 und 1850 maximale Größe erreicht haben. Ob sie dazwischen kleiner waren als heute, wissen wir nicht, wir vermuten aber, dass sie mindestens seit dem Mittelalter nie so klein waren wie heute.

3) Können wir etwas über die Größe der Gletscher in den nächsten 100 Jahren sagen? Die vor Kurzem veröffentlichten Berechnungen des IPCC lassen die Temperatur in den nächsten 50 Jahren weltweit um mehrere Grad steigen. Die Spanne der Vorhersagen verschiedener Modelle ist dabei so groß, dass sie fast dem Unterschied zwischen Eiszeit- und heutigen Temperaturen gleichkommt. Diese Unsicherheit in den Vorhersagen der Temperatur müssen wir auch auf die Gletscher übertragen: es ist sicher, dass sie noch kleiner werden, aber es ist unsicher, um wie viel und wie schnell. Dass die Gletscher im Süden von Norwegen im letzten Jahrzehnt vorgestoßen sind, während die Alpengletscher stark zurück gegangen sind, zeigt auch, dass es wichtige regionale Effekte gibt, die nicht im Gleichlauf mit der globalen Entwicklung stehen. Wenn wir diesen Unsicherheiten ausweichen wollen, können wir fragen, was passiert, wenn die Temperatur wirklich weiterhin so bleibt, wie in den letzen 20 Jahren. Wir können dazu ein ganz einfaches Modell anwenden, in dem die Gletscher so wie in den vergangenen Jahren (gerundet) 0,5 m pro Jahr dünner werden. Dazu brauchen wir die Ergebnisse der Radio-Echolotungen, mit denen die österreichischen Gletscher in den vergangenen Jahren untersucht worden sind. Nach diesen Messungen sind die größten Österreichischen Gletscher ungefähr 250 m dick. Mit der heutigen Ablationsrate von ungefähr 1/2 m pro Jahr würden sie also doch noch 500 Jahre existieren können.

 

Vergangen. Nur noch ein paar Schneeflecken sind heute auf der Nordwestseite der Napfspitze zu sehen, die früher von einem Gletscher bedeckt war. Die Moränen in der rechten unteren Bildhälfte zeigen die ehemalige Gletscherausdehnung.

 

Für unsere Begriffe "ewiges" Eis gibt es in der Antarktis. Das 14 Millionen km2 große Inlandeis um den Südpol bewegt sich so langsam, dass man in einem 3 km tiefen Bohrloch Eisstücke mit einem Alter von 400.000 Jahren hervorgeholt hat. Es wäre beruhigend, wenn wir einen Teil dieses antarktischen Eises in die Alpen verlagern könnten.

Wirtschaftlich von besonderer Bedeutung für Österreich ist der Rückgang der Andauer der Schneedecke: bis in etwa 1500 m Höhe muß man bei Temperaturzunahmen um 1-2°C mit einem Rückgang um 20 - 40 Tage rechnen.

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